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Frage Nr. 33299 von 06.07.2021

Liebes Lilli-Team,
ich habe eure Umfrage gelesen und ich habe darüber nachgedacht, wie sich meine Eltern verhalten haben. Sie haben mich oft beschämt, verglichen und mir immer wieder bestimmte schlechte, böse Eigenschaften zugeschrieben. Auch heute noch wiederholt sich das bei Konflikten, aber ich bin darauf natürlich viel besser vorbereitet als ich das als Kind und Jugendliche war.

Ich habe sehr lange gebraucht, um überhaupt zu verstehen, dass mein Selbstbild damit sehr eng zusammenhängt und es eigentlich gar nicht mein eigenes ist, sondern eher ein Abklatsch dessen, wie sie immer wieder über meine Persönlichkeit, meinen Körper und mein Aussehen geredet haben.

Im Prinzip ist das wahrscheinlich total normal, weil man sich schließlich an dem orientiert, was einem das Umfeld spiegelt und Kritik ist dabei sicher auch mal hilfreich, wenn man dann etwas zum Guten an sich verändern kann. Aber ich konnte mich nie so ändern, dass ich richtig gewesen wäre, weil mein Körper und mein Aussehen natürlich wenig veränderlich sind und weil sie oft beschrieben haben, wie abgrundtief schlecht meine Persönlichkeit von Natur aus ist, dass ich von Geburt an ganz und gar böse bin und vom Teufel oder so etwas besessen.

Seit ich endlich den Zusammenhang zwischen dem Urteil meiner Eltern über mich und meinem Selbstbild verstanden habe, geht es mir nicht mehr ganz so schlecht damit wie ich mich selbst sehe und inzwischen kann ich natürlich auch rational erkennen, dass kein Mensch einfach so böse ist oder von bösen Mächten besessen sein kann.

Aber emotional bin ich wohl immer noch weit entfernt von einem guten Selbstbild. Unter anderem weil mich ein Argument meiner Eltern immer wieder quält. Denn sie haben mir auch immerzu gesagt, dass alle andere Menschen mich früher oder später durchschauen werden, sich dann natürlich von mir abwenden und meine wahre innere und äußere Hässlichkeit erkennen werden.

Das macht es mir nicht so leicht, anderen zu vertrauen und Kontakte zu knüpfen, weil ich oft Angst habe, dass die dann mein wahres Gesicht erkennen und ich dann die gleichen schmerzhaften Dinge auch von ihnen hören muss oder ich verhalte mich dann tatsächlich falsch und bekomme entsprechend negative Rückmeldung dazu. Es ist dann wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, nur dass es mir dann paradoxerweise damit immer noch besser geht.

Von ein paar wenigen Menschen wie meinem Freund bekomme ich trotzdem positive Rückmeldungen zu meiner Person und meinem Aussehen, aber ich kann das bei Weitem nicht so gut annehmen, denn es sitzt sehr fest, dass alle vernünftigen Menschen mich durchschauen werden und die anderen nur noch nicht mein wahres Gesicht erkannt haben.

Ich habe lange gebraucht bis ich die Zusammenhänge von meinem Verhalten, dem Selbstbild und den Urteilen meiner Eltern zumindest kognitiv so erkennen konnte, aber ich habe das Gefühl an dem Punkt komme ich nicht weiter, weil das etwas emotionales ist und sich nicht so einfach durch diese kognitiven Erkenntnisse beeinflussen lässt. Oft gelingt es mir auch nicht mich normal zu beschreiben, wenn ich danach gefragt werde, sondern dann gebe ich eigentlich wie ein Tonband wieder, was meine Eltern gesagt haben oder ich weiche der Frage aus. Am liebsten würde ich in solchen Situationen ein echtes, ganz eigenes Selbstbild beschreiben. Kann man das lernen oder gibt es das gar nicht, weil es immer nur eine Mischung aus dem ist, was einem von außen gespiegelt wird?

Was könnte ich tun, damit ich positive Rückmeldungen aus meinem Umfeld auch emotional glauben und annehmen kann? Auch wenn diese positiven Rückmeldungen die negativen Teile meines Selbstbildes wohl nicht auslöschen können, hätte ich aber gerne, dass sie zumindest auch genauso ein Teil von mir werden, denn ich kann nicht beurteilen, welche Sichtweise auf mich wahr ist, aber sie sind zumindest beide vorhanden.

Unsere Antwort

Ich gehe nicht einig mit dir, dass du negative Teile deines Selbstbildes ein Leben lang mit dir mittragen musst. Das sind ja Teile deines Selbstbildes, die rational betrachtet schwachsinnig sind. Andere Teile deines Selbstbildes zeigen vielleicht Seiten von dir, die realistisch gesehen verbesserungswürdig sind. An denen kannst du arbeiten. Wir können uns alle weiterentwickeln.

Um die negativen Sichtweisen über dich zu verbessern, die dir deine Eltern eingepflanzt haben, hilft es, wenn du die Mechanismen dahinter verstehst. Du bist in einem Umfeld aufgewachsen, wo du übermässigen Stress erlebt hast: Ein Kind, das von seinen Eltern derart abgewertet wird, wähnt sich emotional im Grunde immer in Lebensgefahr. Denn du warst auf Gedeih und Verderb von deinen Eltern abhängig. Dein Überleben hing davon ab, dass deine Eltern da waren. Nun waren sie aber keine «sicheren» Bezugspersonen. Die Bindung war ausgesprochen wackelig.  

Wie hast du gelernt, in so einem unsicheren Milieu zu überleben? Du hast gelernt, dich anzupassen und einzugliedern. Du hast die Eltern in einem verklärt schönen Licht gezeichnet. Das ging nur, indem du dich gleichzeitig schwarzgemalt und böse oder schlecht hingestellt hast. So hatten sie mit ihrem Verhalten «recht» und du konntest sie als gut und vernünftig hinstellen.  Wenn du nicht diese verzerrte Sichtweise gehabt hättest, hättest du den Tatsachen klar in die Augen schauen und sehen müssen, wie schlimm deine Eltern wirklich für dich waren, und was sie dir wirklich antaten. Ein Kind, das das sieht, muss im Prinzip davonrennen. Und die wenigsten Kinder schaffen das – erfolgreich. Die meisten bleiben. Und passen sich an, in dem sie ihr Selbstbild abwerten und das Bild der Eltern aufwerten.

Nun bist du erwachsen. Du bist gescheit und siehst schon sehr vieles klar: Rational verstehst du, dass du nicht böse bist oder schlecht oder vom Teufel besessen. Rational hast du dich von den Aussagen deiner Eltern distanziert. Aber emotional nicht. Emotional identifizierst du dich noch mit ihren Aussagen. Das Gefühl, innen und aussen hässlich zu sein, steckt dir noch in den Gliedern.

Um das zu verstehen, musst du etwas über das Traumagedächtnis wissen. Du warst als Kind rund um deine Eltern sehr oft in einem sehr gestressten Zustand. Da funktioniert das Gehirn anders. Im ruhigen Zustand werden Dinge, die wir erleben, sauber im chronologischen, «expliziten» Gedächtnis abgelegt und in einer Gedächtnis-Zeitachse zu einem Gesamtbild integriert. Im hohen Stress versagen diese Speichermechanismen, und das, was wir erleben, wird unsauber als Eindrücke, Bilder, Gefühlszustände, Empfindungen im «impliziten» Gedächtnis gespeichert – ohne Zeitverständnis, ohne Sprachverständnis, als Splitter, die wenig zusammenhängen.

Dinge, die im expliziten Gedächtnis gespeichert sind, können wir einfach abrufen. Man nennt sie auch «cold memories» – kalte Erinnerungen. Wir erleben sie als etwas, das in der Vergangenheit liegt. Wir können sie erzählen. Im impliziten Gedächtnis gespeicherte Dinge werden anders erinnert: Es passiert irgend etwas, das sich ähnlich anfühlt, oder ähnliche Empfindungen auslöst, oder ähnliche Bilder oder Eindrücke mit sich bringt, und das Gehirn stellt eine Assoziation mit impliziten Gedächtnisinhalten her.

Man nennt das auch «hot memories» – heisse Erinnerungen, und erlebt sie als «Flashback»: Plötzlich erlebst du etwas, das sich gleich anfühlt wie damals. Aber du erlebst das, als ob es jetzt gerade passiert. Du erlebst Dinge oder benimmst dich auf eine Art und Weise, die aus heutiger Sicht gar keinen Sinn macht, aber sozusagen ein Wiedererleben von damals ist.

Dein Erleben, dass du von grundauf schlecht und hässlich bist, ist so eine hot memory. Als Kind war das eine überlebensnotwendige Strategie, um dich deinen Eltern anzupassen. Zudem half die Identifikation mit ihrer Sichtweise (über dich), dass du eher «zu ihnen gehört» hast. Das heisst, die Selbstabwertung hat dir geholfen, dich in Sicherheit zu wähnen. Heute sind solche Strategien nicht mehr nötig. Aber diese hot memory, dieser kindliche Erlebnisanteil, hat noch nicht begriffen, dass die Vergangenheit vorbei ist, und dass du in Sicherheit bist und selbst für dich sorgen kannst.

Du kannst hot memories aufräumen und sauber im chronologischen Gedächtnis abspeichern. Dabei hilft es, in einen inneren Dialog mit ihnen zu treten. Du könntest mit dem Erlebnisanteil, der sich schlecht und hässlich findet, in den Dialog treten. Überleg dir, wie alt das Kind war, dass diese Sicht- und Fühlweise für sich entwickeln musste. Du könntest diesem kindlichen Anteil sagen, dass du dankbar bist, dass er dir damals geholfen hat, zu überleben. Du könntest ihm beibringen, wie viele Jahre seither vergangen sind, und dass ihr jetzt in Sicherheit seid, und dass die selbstabwertende Sichtweise jetzt nicht mehr nötig ist, um sicher zu sein.

Wenn dieser kindliche Erlebnisanteil von der Angst der Vergangenheit erlöst ist, kannst du ihn für besseres brauchen – als konstruktiv selbstkritischen Anteil. Zum Beispiel, wenn du dich wirklich so benimmst, dass du Menschen abweist oder Kritik von ihnen provozierst. Da hilft dir Selbstkritik, damit du dir angewöhnst, dich sinnvoller und respektvoller in der Anwesenheit anderer zu benehmen.

Du könntest dir überlegen, ob du eine Traumatherapie machen möchtest, um in deinem Kopf aufzuräumen. Möglich wäre z.B. eine Egostate-Therapie. Wenn du gern etwas anspruchsvollere Bücher liest, möchte ich dir zudem das Buch «Brain Talk» von David Schnarch ans Herz legen.

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