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Frage Nr. 33361 von 11.07.2021

Hallo Lilli,
ich bin kürzlich schwer krank geworden, und mein Wunsch nach einer Beziehung erscheint mir jetzt aussichtslos.
Ich habe mich viel mit Evolutionspsychologie beschäftigt, dass unbewusst der Partner nach Talent, Ressourcen und Gesundheit gewählt wird. Unsere Gehirne sind so programmiert, um zu überleben, und das können wir nicht mit jemanden, der eine Verpflichtung statt einer Bereicherung ist. Krankheit bedeutet Belastung, emotional und finanziell. Das ist bei Gesunden nicht der Fall. Warum sollte ich gewählt werden? Ich ziehe Energie, Ressourcen ab, egal wie gut ich damit umgehen lerne, denn es ist nunmal da. Von allem was diese Krankheit für mich bedeutet ist dies das tiefste Loch- meinen Wunsch nach Nähe und Intimität darauf zu beschränken, dass ich mich zum bloßen Sex hergeben muss weil eine echte Beziehung nicht mehr drin ist. Wieso sollte sich jemand eine Belastung aufhalsen, wo er doch genetisch darauf programmiert ist, jemanden zu finden der das Überleben unterstützt und nicht erschwert?
Bitte sagt mir, wie ich es schaffen kann, diese Gedanken und Ängste in den Griff zu bekommen und den Wunsch nach Beziehung und Intimität abzulegen... Vielen, vielen Dank!

Unsere Antwort

Wenn der Mensch so einfach gepolt wäre, wie du das beschreibst, hätten wir eine sehr triste Beziehungswelt. Menschen würden einander verlassen, sobald eine Person krank würde, Menschen mit Beeinträchtigungen hätten keine Partner*innen, und im Alter würden sich alle scheiden lassen oder wären unzufrieden miteinander.

Du vergisst bei deiner evolutionsbiologischen Recherche etwas ganz Entscheidndes: die Fähigkeit des Menschen zu prosozialer Empathie. Das heisst: wir sind soziale Wesen. Du schreibst von Programmierung des Gehirns. Unsere Gehirne sind so programmiert, dass wir Leute, die uns nahe stehen, zu einem gewissen Mass immer auch unterstützen, umsorgen und beschützen wollen.

Diese "Programmierung" haben übrigens auch andere Säugetiere: Das "Überleben" der eigenen Gene gelingt besser, wenn ein Tier Nahestehende unterstützt. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass nahestehende Tiere einen erheblichen Teil der eigenen Gene haben, ist besonders hoch. So sind Familien und Clans entstanden. In diesen Gruppen werden Schwächere unterstützt. Das kannst du bei Schimpansen besonders gut beobachten.

Unabhängig von evolutionspsychologischen Überlegungen gibt das Gefühl, gebraucht zu werden, unserem Leben einen Sinn. Ein*e Partner*in hat vielleicht viel Energie und Ressourcen und gibt da gern was ab. Wichtig ist einfach, dass du die Person nicht auf die Rolle des Pflegenden reduzierst. Wichtig ist, dass du für dich ein Unterstützungssystem aufbaust, in dem du möglichst eigenständig sein kannst trotz deiner Erkrankung.

Aus psychologischer Sicht werden Menschen aus diversen Gründen zu Paaren. Da gehts nicht nur drum, dass die Düfte kompatibel sind (sind sie übrigens unabhängig von Gesundheitszustand) und dass die Ausstrahlung eine grosse Rolle spielt. Sondern da spielen auch die Phänomene "Gleich und Gleich gesellt sich gern" und "Gegensätze ziehen sich an" eine Rolle. Ersteres gilt rund um unsere Interessen und Lebenseinstellungen. Zweiteres gilt bezüglich unserer Charaktere. Das heisst: Du triffst vielleicht auf eine Person, die ähnliche Interessen hat und gleichzeitig aber vom Charakter her etwas verkörpert, was du selbst gar nicht bist – extravertiert, introvertiert, bedacht, impulsiv usw. Das macht Beziehungen sehr reizvoll – und sehr anstrengend.

Ich könnte noch vieles mehr schreiben, das deinen Befürchtungen widerspricht. Aber ich möchte lieber über deine allerwichtigste Beziehung schreiben: die zu dir selbst. Ich denke, dein Selbstbild ist durch den Schock der Erkankung sehr ins Wanken gekommen. Das ist verständlich. Wenn du dich an dem misst, was vorher war, siehst du nur Defizite. Du musst den Mensch hinter der Krankheit wieder entdecken. Und wenn du ihn entdeckt hast, kannst du ihn auch wieder zeigen. Dieser Mensch ist für andere interessant, reizvoll, attraktiv.

Und dann wirst du merken, dass du trotz deiner Erkrankung andere Menschen auch unterstützen kannst – in gewissen Dingen besser als in anderen. Du wirst herausfinden, in welcher Hinsicht du anderen Menschen Freude, Energie und Ressourcen geben kannst. Machst du irgend eine Beratung oder Therapie? Je nachdem, wie ernsthaft und/oder beeinträchtigend deine Erkrankung ist, wäre das kein Luxus, dir jemanden zu suchen, der dich dabei unterstützt, zu einem guten Selbstbild und Selbstwertgefühl zu finden.

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