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Frage Nr. 37260 von 21.08.2023

Hallo lilli

Ich bin m und werde dieses Jahr 34. Ich bin mir nicht sicher ob mein Problem für die Seite passt aber ich versuch es mal. Ich habe eine Schwester 32 zu welcher ich ein sehr gutes Verhältnis habe.
Vor etwa zwei Monaten wollte sie sich plötzlich das Leben nehmen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Sie hat ein tolles Leben, einen netten Freund und ist beruflich erfolgreich. Die Abschiedsnachricht, eine schmucklose unheimliche whatsappnachricht, geistert oft jetzt noch in meinen Gedanken herum. Es war ein totales Glück,dass wir die Nachricht gesehen haben und meine Eltern und ihr Freund rechtzeitig reagiert haben und die Rettung holten.

Jetzt geht es ihr wieder viel besser,aber trotzdem hängt mir die Sache psychisch noch sehr nach. Ich habe oft Stimmungsschwankungen, hab an manchen Tagen das Bedürfnis das ich plötzlich weinen muss, was in der Arbeit manchmal nicht geht und träume öfters schlecht. Es hängt immer noch ein gewisser düsterer Schleier über viele Dinge. Ich verhalte mich ihr gegenüber anders als früher. Ich werde oft wütend wenn sie von irgendwen kritisiert wird und nehme vieles einfach anders wahr. Ich war mit meiner Familie(sie war dabei) in der Karibik auf Urlaub. Es war sehr schön,aber irgendwie spürte ich oft eine gewisse Traurigkeit in mir.

Ist es normal, dass ich da immer noch emotional reagiere oder sollte ich mich schon davon erholt haben? Manchmal hab ich den Eindruck dass von mir erwartet wird,dass ich das jetzt schon langsam wieder in die Gänge kommen sollte und das Leben genießen soll. Ich versuche,das Leben zu genießen aber trotzdem ist vieles etwas anders wie früher. Ich kann zb keine Filme mehr sehen wo Gewalt vorkommt( Krimis,Horror,Thriller). Das ist mir oft noch zuviel.Es reichte schon ein gewisser reggae song den ich zufälligerweise in einem taxi hörte und ich musste mit den Tränen kämpfen.

Hab jetzt einen Platz für eine psychotherapie bekommen. Sie startet aber erst Ende September.

Ich habe oft einige Antworten von euch zu anderen Fragen gelesen und war beeindruckt. Es tut einfach gut darüber zu schreiben. Ich kann momentan jede Möglichkeit die mir hilft gebrauchen.

Unsere Antwort

Erstens: Zwei Monate sind gar nichts. Wenn du etwas erlebst, das dir so an die Nieren geht, braucht die Verarbeitung in der Regel deutlich länger.

Zweitens: Super dass du Ende September mit einer Therapie beginnst. Ich gönne dir da alle Unterstützung.

Ich schreibe hier gern ein paar Gedanken auf. Diese werden dich möglicherweise befremden. Denn ich werde "hart" über deine Schwester schreiben. Ich möchte sie nicht schlecht machen. Aber ich vermute, damit du weiterkommst, wäre es gut, du würdest sie auch aus dieser Perspektive sehen:

Sie hat dir und deiner Familie einen brutalen Schlag versetzt: Du warst ihr nah, und dann hat sie dir in einer Whatsappnachricht geschrieben, dass sie sich suizidieren wird. Wie fühlt sich das für einen liebenden Bruder an? Dass sie in Kauf genommen hat, dass es dir durch die Nachricht – und natürlich auch durch einen Suizid – furchtbar gehen würde? Vielleicht war die Whatsapp-Nachricht auch ein Hilferuf. Aber was für ein Hilferuf? Warum ist sie nicht zu dir gekommen und hat dir gesagt: "Du, es geht mir schlecht, ich weiss nicht weiter?" Wie wichtig war ihr die Beziehung zu dir? Wie wichtig war ihr dein Wohlergehen?

Wie liest sich das für dich? Wie fühlt es sich an, wenn ich sie so in die Verantwortung ziehe? Du schreibst, dass du wütend wirst, wenn sie kritisiert wird. Ja, hast du auch manchmal Wut auf deine Schwester? Für das, was sie dir angetan hat? Darf das in eurer Beziehung Platz haben? Menschen können brutal sein, und verzweifelte Menschen um so mehr. Deine Schwester wird deshalb nicht zum Unmensch, weil sie gemacht hat, was sie gemacht hat. Aber ich würde dir raten, dass du auch anerkennst, wie sie mit dir umgegangen ist, und was das mit dir gemacht hat. Du brauchst es jetzt, dass du dich und deine Gefühle wirklich ernst nimmst. Das Ziel ist, dass du mehr Mitgefühl für dich selbst entwickelst. Denn du brauchst Mitgefühl, um dich zu trösten.

Ich könnte mir vorstellen, dass dein Vertrauen in Beziehungen völlig erschüttert ist. Und das ist geradezu traumatisch. Ja, ich verwende den Begriff Trauma, denn du beschreibst dich wie jemand, der an Traumafolgen leidet. Wer weiss, welche alten Geschichten der Suizidversuch deiner Schwester aufgewirbelt hat. Wer weiss, welche Rolle da deine Eltern spielen. Ich hoffe, dass du das in der Therapie beleuchten kannst. Du kannst uns auch gern wieder schreiben – egal was du für Gedanken zu meinen Gedanken hast.

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