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Frage Nr. 35446 von 13.07.2022

Liebes lilli-Team
Ich bin weiblich und 25 Jahre alt. Vor rund zehn Jahren hatte ich meinen ersten festen Freund (er war ein Jahr älter als ich). Diese Beziehung war rückblickend schrecklich für mich - aber eben erst rückblickend. Ich erinnere mich oft an mein erstes Mal mit ihm (mein erstes Mal überhaupt). Ich sehe immer wieder das Zimmer vor meinem inneren Auge, weiss sogar noch, welche Musik damals lief. Auch erinnere ich mich, dass ich damals noch nicht für mein erstes Mal bereit war. Ich wollte das damals nicht, wehrte mich aber nicht, da ich meinen ersten Freund nicht schon nach so kurzer Zeit "verscheuchen" wollte, ich machte also einfach mit. Ich war wie versteinert, konnte nichts sagen und der Schmerz, den ich damals fühlte, ist mir noch heute präsent. Alle weiteren Male, an denen wir zusammen schliefen, waren für mich nicht anders als das erste Mal. Die Beziehung dauerte zwei Jahre an. Er "zwang" mich auf irgendeine Weise immer und das sehr oft zum Sex, den ich nie geniessen konnte. Es fühlte sich für mich so an, als wäre es meine Pflicht. Er unterdrückte mich mit seinen Worten, ich durfte nichts falsches sagen. Wenn ich mich trennen wollte, drohte er mir damit, sich etwas anzutun. Er lebte an mir seine Fetische aus, die ich hasste, er schickte anderen Frauen (teilweise Freundinnen von mir) Penisbilder von sich oder anzügliche Nachrichten. Ich erlebte psychische Gewalt, manchmal kam es sogar zu physischer Gewalt. Er schrie mich sehr oft an - wegen nichts. Ich fühlte mich ausgenützt und hilflos, hatte meistens Angst vor ihm. Das schlimmste war aber wirklich immer der Geschlechtsverkehr mit ihm, zu dem ich mich einfach verpflichtet fühlte. Ich habe nie jemandem davon erzählt, obwohl meine Eltern oft versucht haben, mit mir zu reden, sie hatten jedoch keine Ahnung, was wirklich los war. Ich hatte Angst vor der Reaktion von meinem damaligen Freund und ein unheimliches Schamgefühl.

Wie gesagt, ist dies nun zehn Jahre her. Ich konnte mich damals durch eine neue, schöne Liebe von ihm lösen und trennen. Mit meinem "Retter" (so nenne ich ihn gerne) war ich drei Jahre zusammen und er zeigte mir liebevoll, wie sich eine glückliche Beziehung anfühlt. Heute bin ich seit eineinhalb Jahren mit meinem jetzigen Partner zusammen, mit dem ich sehr glücklich bin. Wir haben oft Sex, den ich immer sehr geniesse. Jedoch merke ich nun, dass diese Erinnerungen von damals plötzlich hochkommen. Mir wird immer mehr bewusst, was mein erster Freund mit mir gemacht hat, wie er mich ausgenutzt und unterdrückt hat. Ich spüre, dass meine Vergangenheit mich einholt. Wie die Bilder, die ich so lange verdrängen konnte, plötzlich wieder in meinen Gedanken auftauchen. Ich habe damals nicht gehandelt, mich nicht gewehrt. Heute frage ich mich, ob das falsch war. Ich habe Angst, mit meinem jetzigen Partner darüber zu sprechen, weil ich nicht will, dass er ein anderes Bild von mir hat, sich Sorgen macht oder sich sogar von mir abwendet. Meine Vergangenheit beeinflusst unsere Beziehung bisher auch nicht, ich kann das gut für mich behalten. Ich habe aber je länger je mehr das Gefühl, dass ich mit jemandem darüber sprechen sollte, weil ich Angst habe, dass mich diese Erinnerungen an diese schlimme Zeit immer mehr belasten könnten. Da ich sehr selbstreflektiert bin und mich oft mit mir selbst auseinandersetze, spüre ich, dass die Erinnerungen in mir irgendetwas auslösen, das Gefühl kann ich jedoch nicht genau beschreiben - auf jeden Fall ist es kein angenehmes Gefühl.

Sollte ich mit meinem jetzigen Partner darüber sprechen? Oder besser gefragt: Wie spreche ich so etwas an (unabhängig davon, mit wem ich darüber rede)? Oder mit wem sollte bzw. kann ich in dieser Situation darüber sprechen (gibt es niederschwellige Beratungsangebote)?

Ich danke Euch von Herzen, dass Ihr Euch mit meinem "Problem" auseinandersetzt und schicke Euch liebe Grüsse!

Unsere Antwort

Dir wird zum Glück immer mehr bewusst, was du als 15-Jährige nicht einschätzen konntest. Du hattest damals dafür noch keine Handlungsmöglichkeiten, mit denen du dich aus der Gewaltbeziehung befreien konntest. Bei deiner nächsten Partnerwahl warst du bereits erfahrener. Du hast Erfahrungen mit einem einfühlsamen und verständnisvollen Partner gemacht. Auch mit deinem jetzigen Partner kannst du Glück fühlen. Du hast also in jeder Beziehung dazu gelernt. Du bist eigenständiger geworden. Du suchst dir passende Partner aus. Das ist deine aktuelle Situation.

Früher – also vor 10 Jahren – konntest du das alles noch nicht. Du warst wohl auch noch nicht selbstsicher genug. Das hat der erste Partner ausgenutzt. Wir raten dir, deine Erfahrungen im Bewusstsein zu behalten, damit du als erfahrene Frau weisst, dass es Gewaltbeziehungen gibt. Deine Gewalt-Erfahrung kann dich mitfühlend und verständnisvoll machen. Wichtig ist, dass du die Vergangenheit von der Gegenwart trennst. Derzeit bist du nicht mehr in Gefahr.

Jetzt könnte es aber noch einen anderen Aspekt geben. Hast du Rachegefühle? Findest du, der Ex-Partner müsste für sein Verhalten bestraft werden? Denkst du, du müsstest mit dem Ex-Partner noch etwas klären? Es könnte auch sein, dass du unter der Ungerechtigkeit leidest, dass gerade du in so eine Partnerschaft geraten bist. Solche Gefühle sind auch Jahre nach dem Ende von Gewaltbeziehungen möglich. Auch solche Gefühle kannst du bewältigen lernen.

Raten tun wir dir deswegen, dir eine Psychotherapeutin oder psychologische Beraterin zu suchen, mit der du vertrauensvoll reden kannst. Deinen Partner würden wir als Verarbeitungshelfer nicht empfehlen. Natürlich kannst du ihm von deiner Lebensgeschichte erzählen. Eine Beziehung gerät aber leicht in Schieflage, wenn eine die Leidende und der andere der starke Helfer ist. Lern du lieber selbst, dich und deine Gefühle zu regulieren. Du kannst das bereits gut. Jetzt geht es noch um die Bewältigung alter Erfahrungen. Auf unserer Website findest du Adressen und Links für «Psychische Probleme» und für «Frauen, die Gewalt erlebt haben». Wir hoffen, du findest dort eine Adresse, die dich zu einer vertrauenswürdigen Psychotherapeutin führt.

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