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Strafverfahren nach Gewalt

Das Verfahren kann unter Umständen eine grosse Belastung für dich sein. Du kannst einige besondere Rechte als Opfer einer Sexualstraftat einfordern.

Was passiert im Vorverfahren?

Nachdem du Strafanzeige erstattet hast, beginnt das Vorverfahren. Die Polizei beginnt, unter Leitung der zuständigen Staatsanwaltschaft, die Beweise zusammenzutragen. Zum Beispiel befragt die Polizei Auskunftspersonen und Zeug*innen oder macht DNA-Untersuchungen. Eventuell wird die tatverdächtige Person in Untersuchungshaft genommen. Dort bleibt sie in der Regel so lange, bis sicher ist, dass sie keine Beweise mehr verschwinden lassen kann – zum Beispiel Fotos oder Festplatten wegwerfen. Untersuchungshaft kann auch angeordnet werden, wenn Fluchtgefahr oder Wiederholungsgefahr besteht. Du kannst beantragen, dass dir die Inhaftierung und Entlassung der tatverdächtigen Person mitgeteilt wird.

Was muss ich während dem Vorverfahren beachten?

Eventuell wird auch eine Hausdurchsuchung bei dem*der Beschuldigten durchgeführt. Damit die Polizei möglichst viel Beweismaterial sicher stellen kann, ist es wichtig, dass weder du noch Freund*innen oder Eltern durch unbedachte Äusserungen die tatverdächtige Person warnen. Je mehr Beweismaterial die Polizei findet, desto leichter wird für dich das Strafverfahren.

Wie werde ich befragt?

Deine Aussagen sind für eine allfällige Verurteilung des*der Beschuldigten von zentraler Bedeutung. Ab dem 15. Altersjahr wirst du in der Regel als Zeug*in einvernommen. Du musst wahrheitsgemäss und vollständig aussagen. Wenn du bei Einvernahmen oder vor Gericht lügst, machst du dich strafbar (Art. 307 StGB). Die Befragungen sind sehr anstrengend. Du wirst sehr detailliert befragt – vielleicht mehrmals. Manchmal dauern sie stundenlang. Das kann für dich eine grosse Belastung werden. Deshalb ist es wichtig, dass du dich vor der Erstattung einer Strafanzeige bei einer Opferberatungsstelle orientierst und eventuell schon vor der Strafanzeige eine*n Anwält*in kontaktierst.

Welche Rechte habe ich?

Folgende Rechte kannst du beantragen:

  • Du kannst verlangen, von einer Person deines Geschlechts befragt zu werden.
  • Wenn du unter 18 bist, erfolgt deine Einvernahme immer indirekt. Der*die Beschuldigte wird nicht direkt  anwesend sein, sondern deine Aussagen über Video oder hinter einem Einwegspiegel verfolgen.
  • Du kannst Intimfragen verweigern. Damit sind Fragen zu deinem Sexualleben gemeint. Du könntest solche Fragen beantworten, wenn die Antwort die Beweislage verbessert, solltest es aber nicht, wenn die Fragen in keinem Zusammenhang zu der Straftat stehen.
  • Du kannst dich von einer Vertrauensperson begleiten lassen zum Beispiel von dem*der Opferberater*in. Es sollte aber keine Person sein, die im Verfahren zu deinen Gunsten als Zeug*in auftreten kann.
  • Bist du zum Zeitpunkt der Eröffnung der Strafuntersuchung unter 18 Jahre alt, wirst du maximal zwei Mal einvernommen. Eine zweite Einvernahme erfolgt nur, wenn sie unumgänglich ist. Die Einvernahmen werden in der Regel aufgezeichnet.

Du hast ein Recht auf Information über: 

  • Dein Recht auf Hilfe nach dem Opferhilfegesetz und deine Rechte im Strafverfahren;
  • Dein Recht, über wichtige Verfahrensentscheide und über Verfahrensausgang informiert zu werden. Je nach Kanton bekommst du auch Kenntnis über Vollzugsentscheide. Die Opferberatungsstelle oder dein*e Anwält*in informieren dich über die besonderen kantonalen Bestimmungen.

Deine Schutzrechte sind:

  • Verbot der Veröffentlichung deiner Identität.
  • Recht auf Begleitung durch eine Vertrauensperson zu den Einvernahmen.
  • Vermeidung einer direkten Gegenüberstellung mit dem*der Beschuldigten.
  • Ausschluss der Öffentlichkeit von einer Gerichtsverhandlung.

Deine Stellung im Strafverfahren:

Als Opfer musst du entscheiden, ob du im Strafverfahren die Stellung einer einfachen Verfahrensbeteiligten oder Parteistellung einnehmen willst. Eine aktive Position erlaubt dir die Konstituierung als Privatklägerin. Dafür musst du bis zum Abschluss des Vorverfahrens eine entsprechende Erklärung abgeben. Du kannst dich als Straf- und/oder Zivilkläger*in konstituieren.

  • Als Strafkläger*in kannst du z.B. beantragen, dass bestimmte Personen als Zeug*innen einvernommen werden;
  • Als Zivilkläger*in kannst du Schadenersatz und Genugtuung fordern.

Abschluss der Strafuntersuchung/des Vorverfahrens

Nachdem der*die zuständige Staatsanwält*in mit Hilfe der Polizei alles zusammen getragen hat, wird die Strafuntersuchung abgeschlossen. Dies kann auf drei Arten geschehen:

  • Es wird ein Strafbefehl ausgestellt. Darin wird der*die Beschuldigte durch die Staatsanwaltschaft zu maximal 180 Tagessätzen Geldstrafe, zu einer Busse, zu einer Freiheitsstrafe von maximal 6 Monaten (bedingt oder unbedingt) oder zu gemeinnütziger Arbeit von maximal 720 Stunden verurteilt. Voraussetzung ist aber, dass der*die Beschuldigte grundsätzlich geständig ist, bzw. der Sachverhalt anderweitig ausreichend nachgewiesen werden konnte. Im Bereich der Sexualdelikte sind Strafbefehle in sehr leichten bis mittelschweren Fällen möglich.
  • Die Strafuntersuchung wird eingestellt, wenn der Sachverhalt nicht ausreichend nachgewiesen werden kann und du als Opfer deine Strafanträge zurückgezogen hast. 
  • Es wird Anklage durch das zuständige Gericht erhoben.

Anklageerhebung durch das Gericht und Gerichtsverhandlung

Wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat, sind Gerichte zuständig. Je nach Schwere des Falles ist nur ein*e einzige*r Richter*in zuständig oder bei schweren Fällen ein Kollegialgericht, das heisst drei Richter*innen.

Muss ich vor Gericht nochmal aussagen?

Im Verfahren kann entschieden werden, dass du nochmals vor Gericht aussagen musst. In den Kantonen ist das unterschiedlich geregelt. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren dürfen im Laufe des Strafverfahrens jedoch nur maximal zweimal befragt werden. Auf jeden Fall kannst du beantragen, dass die Befragung wieder nur mit indirekter Anwesenheit (Video, Einwegscheibe) der*des Beschuldigten geschieht.

Ist die Gerichtsverhandlung öffentlich?

Gerichtsverhandlungen sind grundsätzlich öffentlich. Alle die wollen, können bei Gerichtsverhandlungen zuhören. Als Opfer eines Sexualdeliktes kannst du beantragen, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Über den Antrag entscheidet das Gericht. Journalist*innen werden bei Ausschluss der Öffentlichkeit über ein Gerichtskommunique kurz informiert.

Strafurteil: Wann kommt es zu einem Freispruch?

Die Richter*innen müssen auf Grund der Akten (dies sind vor allem die Protokolle deiner Einvernahmen), den Aussagen des*der Beschuldigten und allenfalls deiner nochmaligen persönlichen Befragung zu einem Urteil finden. Wenn sie Zweifel haben, ob sich der Vorfall so zugetragen hat, wie er angeklagt wurde, müssen sie die beschuldigte Person freisprechen. Diese Zweifel führen gerade bei Sexualdelikten häufig zu Freisprüchen nach dem Grundsatz «im Zweifel zu Gunsten des*der Angeklagten». Bei Sexualdelikten sind oft keine weiteren Zeug*innen (ausser dir) zugegen und die Beweislage ist ungenügend. Für Opfer kann ein Freispruch sehr schwierig sein, weil sie den Eindruck haben können, dass man ihnen nicht glaubt.

Strafurteil: Wann kommt es zu einer Verurteilung?

Sind die Richter*innen aber überzeugt, dass der*die Beschuldigte die Tat(en) begangen hat, werden sie in ihrem Urteil eine Strafe verhängen. Das Strafmass hängt stark vom Verschulden, der Schwere des Falles und den Einzelumständen ab. Das Urteil kann eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe sein. Ob eine Geldstrafe sofort zu bezahlen ist oder die Freiheitsstrafe vollzogen wird, hängt unter anderem davon ab, ob Umstände vorliegen, die eine erneute Delinquenz vermuten lassen und wie hoch die Strafe ist. Liegt die Freiheitsstrafe unter 2 Jahre kann sie als bedingte Strafe vollzogen werden und bis zu 3 Jahren ist eine teilbedingte Strafe möglich.

Strafurteil: Wann ist ein Urteil rechtskräftig?

Nach der Urteilseröffnung hat jede Partei die Möglichkeit innert 10 Tagen eine Berufung anzumelden. Nach Erhalt des schriftlich begründeten Urteils muss innert 20 Tagen die Berufung zurück gezogen oder mit einer kurzen schriftlich Begründung mitgeteilt werden, gegen welche Punkte des Urteils Berufung erklärt wird (Art. 399 StPO). Das kantonale Obergericht urteilt als 2. Instanz. Gegen das Urteil des Obergerichts kann unter bestimmten Voraussetzungen noch das eidgenössische Bundesgericht angerufen werden. Ein Urteil kann erst vollzogen werden, wenn es rechtskräftig ist. Rechtskraft erlangt ein Urteil, wenn die Frist zur Ergreifung eines Rechtsmittels ungenutzt verstrichen ist oder kein Rechtsmittel mehr ergriffen werden kann.

Zivilforderungen: Schadenersatz und/oder Genugtuung?

Damit das Gericht die Täterschaft dazu verpflichten kann, dir Schadenersatz und/oder Genugtuung zu bezahlen, musst du im Strafverfahrung vor der Anklage (vor Abschluss der Vorverfahrens) erklären, dass du dich als Zivikläger*in konstituierst. Diese Zivilforderungen müssen bei der Staatsanwaltschaft angemeldet und belegt werden, damit du sie im Strafbefehl oder im Urteil zugesprochen erhalten kannst. Erkundige dich dazu bei deinem*deiner Opferberater*in oder deinem*deiner Anwält*in. Auf dein Gesuch hin kann ein Teil des vom Gericht zugesprochenen Schadenersatzes und/oder der Genugtuung von einer Opferhilfestelle bezahlt werden (siehe «Hilfe nach Opferhilfegesetz»).

Was ist Schadenersatz?

Durch eine Straftat kann dir ein Schaden entstanden sein (z.B. Heilungskosten, Erwerbsausfall, kaputte Kleider etc.). Der Schaden muss unmittelbar durch die Straftat entstanden sein. Wenn du diesen Schaden belegen kannst, kann das Gericht den*die Täter*in dazu verurteilen, dir den Schaden zu ersetzen.

Was ist Genugtuung?

Hat die Straftat ausserdem zur Folge, dass du häufig Albträume hast, dich nicht mehr auf die Strasse traust, häufig Angst hast, nicht mehr essen magst, dich überall zurückziehst etc. kann das Gericht den*die Täter*in dazu verurteilen, dir eine Genugtuung zu bezahlen.

Vollzug der Freiheitsstrafe

In einigen Kantonen kannst du als Geschädigte*r verlangen, dass du über den Vollzug der Freiheitsstrafe und insbesondere über Hafterleichterungen informiert wirst. Das musst du nach der Verurteilung beantragen. Dann erfährst du, wann der*die Täter*in Hafturlaub hat oder in ein Arbeits- und/oder Wohnexternat gehen kann. Es ist eine Gesetzesänderung in Planung, welche den Anspruch auf Information auf eidgenössischer Ebene vereinheitlicht.