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Frage Nr. 35026 von 12.05.2022

Ich bin weiblich, 54 Jahre alt, seit vielen Jahren in Beziehung lebend, habe 2 Kinder und bin z.Z. wieder einmal sehr frustriert, weil ich mich seit ca. 30 Jahren nicht mit meiner Veranlagung abfinden kann. Ich habe keine sexuellen Empfindungen beim Küssen, Streicheln, Umarmen oder beim Geschlechtsverkehr.

Ich hatte nie das Gefühl gehabt, verliebt zu sein, hatte meinen Freund/ späteren Mann aber sehr gern. Ich hatte ihn von Anfang an in meine Probleme eingeweiht. Er war anfangs sehr optimistisch, ist immer sehr geduldig und einfühlsam und immer bereit, mir zu helfen.

Ich habe durchaus sexuelle Phantasien, die sich schön anfühlen. Aber in der Realität gibt es keine solchen Gefühle. Oft denke ich, es wäre besser, wenn ich auch keine Sehnsucht danach hätte.
Das erste Mal Geschlechtsverkehr hatte ich mit einer Urlaubsbekanntschaft, auf der Heimfahrt bin ich beim Trampen vergewaltigt worden. Allerdings war mir vor diesen Erfahrungen auch schon bewusst, dass ich anders bin, als andere Mädchen. Dieses Erlebnis war für mich ein willkommener Anlass, mich erst einmal nicht mehr mit dem Thema „Freund kennenlernen“ zu beschäftigen. Ich verdrängte lange dieses Thema.

Mit 25 Jahren hatte ich erstmals mit meiner Gynäkologin darüber gesprochen, sie empfahl mir Masturbation (was ich seit dem mache) und überwies mich zu einem Psychologen, der aber keinen Behandlungsbedarf sah.
Ein weiterer Gynäkologe empfahl mir Gleitgel, als er erfragte, dass ich beim Geschlechtsverkehr Schmerzen hatte. Eine dritte versuchte es 2015 mit DHEA, was jedoch meine Monatsblutung sehr (Myome) verstärkte, sodass schließlich eine Hysterektomie erfolgen musste. Nachdem das mit einigen Komplikationen verheilt war, fühlte ich mich aber körperlich sehr wohl damit.

Bei der Masturbation beginnt meist erst nach ½ -3/4 Stunde Stimulation ein wenig Lustempfinden, kurz vor dem Orgasmus. Bei häufigerem Solosex (mehr als 1-2x pro Woche) ist weder Lustempfinden oder Orgasmus auslösbar. Oft verschwinden erregende Gefühle plötzlich wieder, dann versuche ich an anderer Stelle sie wieder auszulösen. Meist stimuliere ich anfangs die Klitoris, Schamlippen, die Brustwarze, nach einer Weile auch die Vagina. Ich bewege mein Becken dabei, versuche, die Beckenbodenmuskaltur abwechselnd anzuspannen und locker zu lassen. Einen Orgasmus habe ich meist nur, wenn ich zusätzlich die Klitoris stimuliere.

Es gab immer wieder Lebensphasen, in denen ich auch auf Solosex keine Lust hatte. Z. B. während ich die Pille nahm, in der Stillzeit oder in Stresszeiten. Es gab auch eine kurze Zeit, wo ich beim Geschlechtsverkehr mit meinem Mann ein bisschen Lust verspürt habe. Allerdings ohne Orgasmus und nur ein paar Mal, dann funktionierte nichts mehr und ich war sehr enttäuscht.

Vor 2 Jahren musste ich umziehen. Seitdem bin ich sehr oft trauriger Stimmung. Mit Arbeit und Freizeitaktivitäten versuche ich mir darüber weg zu helfen. Ich habe das Gefühl etwas sehr Wichtiges und Schönes im Leben verpasst zu haben.
Was kann ich noch tun? Bin ich asexuell oder grey, muss ich mich mit meiner Veranlagung einfach abfinden? Sollte ich mein Problem doch einmal mit einem Psychologen besprechen. Eigentlich verspreche ich mir aber davon nichts.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für diesen langen Brief nehmen.

Unsere Antwort

Ich finde Begriffe wie "asexuell" nicht hilfreich. Denn sie lassen uns vermuten, dass es eine Frage der Veranlagung ist. Es gibt aber bis heute überhaupt keine Forschungsergebnisse, die belegen, dass es so etwas gibt. Aus meiner sexualtherapeutischen Erfahrung schliesse ich, dass wenig sexuelles Lusterleben keine Frage der Veranlagung ist. Wenn du es als Veranlagung siehst, setzt du einen Stempel auf dich und erlaubst wenig Raum für anderes. Und es kommt zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Du erwartest etwas, das dann auch eintritt, weil du es erwartest.

Du könntest das ja auch ganz anders sehen: Du hast eine reichhaltige Sexualität mit schönen sexuellen Fantasien. Das heisst, du bist gut sexuell erregbar und kannst Lust am Sex erleben. Du empfindest sexuelles Begehren  – also Sehnsucht nach sexueller Begegnung. Du und deine Sexualität, ihr seid sehr resilient – traumatische Erlebnisse wie einen sexuellen Übergriff oder die Hysterektomie hast du gut verarbeitet. Du kannst bei Masturbation Lusterleben und Orgasmus auslösen. Deine Klitoris, deine Labien, deine Nippel, deine Vagina und deine Beckenbodenmuskulatur hast du alle als Erregungsquellen für dich entdeckt. Kurz: Du bist alles andere als asexuell oder grey. Sondern völlig normal. Wie hört sich das für dich an?

Du schreibst, dir war bewusst, dass du anders als andere Mädchen warst. Inwiefern denn? Inwiefern hatten die etwas, das du anders hattest? Warum weisst du das? Weisst du wirklich, was sie erlebt haben? Du beschreibst ein Thema, was für viele Frauen typisch ist: Die sexuelle Erregung in der Paarsexualität gelingt weniger gut und ist weniger lustvoll als die Selbstbefriedigung oder die Fantasie. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Wenn du ein bestimmtes Erregungsritual gelernt hast, kann der Partner stören. Der Partner macht nicht das gleiche, was du und dein Körper gelernt hat, erregend zu erleben. Insbesondere der vaginale Geschlechtsverkehr unterscheidet sich oft ziemlich vom Muster, das eine Frau bei der Selbstbefriedigung gelernt hat. Der Partner kann auch eine Ablenkung sein vom Fokus auf dich selbst und von deinen sexuellen Fantasien. Beziehungsprobleme können sich in der Paarsexualität verstecken. Und so weiter.

Die klinische Erfahrung zeigt uns: Es hatte noch nie eine Frau grundlos keine Lust am Sex oder wenig Lust auf Sex. Den Gründen nachzugehen, ist hilfreich. Denn nur so kannst du an den richtigen Punkten Veränderungen angehen. Ich würde hier aber eher keine Psychotherapie empfehlen, sondern eine Sexualtherapie. Wichtig ist, dass das eine Fachperson ist, die sich nicht von deiner Asexualitäts-Befürchtung beeindrucken lässt. Vielleicht möchtest du gezielt jemanden suchen, der nach dem Ansatz des Sexocorporel arbeitet. Das ist der Ansatz, den wir bei Lilli auch vertreten.

Wenn du Lust hast, für dich selbst weiter zu erforschen, hier einige Tipps: Ich finde es gut, dass du Bewegung in die Selbstbefriedigung hineinbringst, denn Bewegung fördert das Lusterleben. Ich finde es gut, dass du deinen ganzen Körper einbeziehst in die sexuelle Erregung, und dass du dir Zeit lässt. Wichtig ist auch der Einbezug der sexuellen Fantasien als Erregungsquelle. Ich würde dir raten, dass du dir bei der Selbstbefriedigung zum Ziel machst, zu erforschen und zu erleben. Erwartungen bezüglich irgend etwas, was nicht ist, können uns den Sex ziemlich versauern. Ganz wichtig ist daher die Haltung: "Es ist, was es ist. Ich erlebe, was ich erlebe. Und das ist gut so". Also ein bisschen Zen in den Sex einbauen.

Freilich kannst du uns auch wieder schreiben mit weiteren Fragen. Gib dann bitte einfach die Nummer dieser Frage ein.

Ich habe einige Angaben aus deiner Frage gekürzt, damit du anonym bleibst.

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