Stell deine Frage...

Frage Nr. 35033 von 14.05.2022

Hallo, und erstmal vielen Dank, dass es euch gibt und Ihr Ratsuchenden mit so wertvollen Antworten zur Seite steht!

Ich (30/d) suche nach Informationen zu dem Thema Transidentität.

Zum einen Interessierte es mich, ob es eine wissenschaftlich Erklärungsmodelle für das Phänomen gibt? Oder leitet man, dass es Transidentität gibt, einfach aus der Beobachtung ab, dass es Menschen gibt, die sich ein anderes Geschlecht wünschen und denen es besser geht, wenn sich dieser der Wunsch realisieren lässt?

Wie viel weiß man darüber, wie viele Menschen die Entscheidung ihr Geschlecht anzupassen bereuen? Gibt es da auch Langzeitstudien?

Gibt es die Möglichkeit die eigene Wahrnehmung z.B. durch einen Hirnscann zu verifizieren? Gibt es weitere Möglichkeiten, bei der Entscheidung ob man geschlechtsangleichende Maßnahmen vornehmen möchte, mehr Klarheit zu gewinnen. Als jemand der Entscheidungen eher scheut, stellt diese Entscheidung eine ziemliche Herausforderung da.

Und welche Rolle spielt Psychotherapie bei dem Thema? Wäre es nicht möglich durch Psychotherapie zu lernen, das eigene Geschlecht zu akzeptieren? Bei anderen körperdysmorphen Störungen (also z.B. den Wunsch ein Ohr zu amputieren oder so) wird ja meines Wissens nach, auch nicht der Körper an das gefühlte Ideal angepasst, sondern daran gearbeitet seinen Körper zu akzeptieren?
Liegt das eher an der gesellschaftlichen Überzeugung, dass man bzgl. Sexualität viele Freiheiten gewähren möchte? Oder sind die tatsächlichen Therapieerfolge so gering?

Ich freue mich jetzt schon darauf eure Antwort zu lesen

Unsere Antwort

Es gab in der Menschheitsgeschichte schon immer Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau fühlten. In etlichen Kulturen gibt es ohnehin mehr als zwei Geschlechter oder es ist akzeptiert, dass die Geschlechtsidentität eines Menschen nicht (nur) von den körperlichen Gegebenheiten abhängt. Insofern ist es erstmal aus der Beobachtung heraus klar, dass es Transidentität gibt. Die Wissenschaft kommt aber erst jetzt langsam dazu, sich so richtig damit zu beschäftigen. Es ist mittlerweile klar, dass auch die biologischen Aspekte von Geschlecht – also zum Beispiel Chromosome und Genitalien – nicht nur zwei Ausprägungen haben. Das heißt, es gibt auch rein biologisch betrachtet mehr als zwei Geschlechter. Die Forschung hat auch einige Anhaltspunkte gefunden, dass biologische Faktoren bei Transidentität eine Rolle spielen könnten. Zum Beispiel könnte es sein, dass es etwas mit der Wirkung von Hormonen auf den Embryo zu tun hat. Wirklich belegt ist aber bisher nichts davon. Man weiß also noch nicht sicher, ob und wie Transidentität biologisch entsteht. Es ist aber davon auszugehen, dass ohnehin mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Das heißt, auch psychologische und soziale Aspekte entscheiden mit, ob eine Person trans ist.

„Wissenschaftlich“ heißt ja außerdem nicht nur biologisch. Auch Psychologie, Soziologie, Geschichte und Anthropologie sind Wissenschaften. Und diese bestätigen alle, dass es trans Menschen sehr wahrscheinlich schon immer gab. Und sie zeigen sehr deutlich, dass es trans Menschen besser geht, wenn sie gesellschaftlich akzeptiert werden und sie die medizinische Versorgung bekommen, die sie brauchen.

Ja, es gibt Menschen, die eine medizinische Geschlechtsangleichung bereuen, sie abbrechen oder rückgängig machen. Das wird manchmal Detransition genannt. Der aktuelle Wissensstand dazu sagt aber, dass das nur einen sehr kleinen Anteil betrifft. Es gibt zwar bisher nur wenige Studien, aber dort liegen die Zahlen bei ca. 5 - 10 %. Allerdings zeigt sich in Studien auch, dass etliche trans Menschen ihre Transition abbrechen, weil der Druck von außen oder die Diskriminierung zu groß werden, oder weil sie nicht genug Geld haben. Das heißt, ihr Geschlechtsidentität hat sich gar nicht verändert, aber es ist für sie zu anstrengend oder gefährlich, die Transition weiterzuverfolgen. Das ist also eher ein gesellschaftliches Problem.

Du fragst nach Möglichkeiten, mehr Klarheit zu gewinnen über deine Geschlechtsidentität. Zunächst mal: Nein, einen Gehirnscan kannst du dafür nicht machen. Ein Gehirnscan kann dir generell kaum etwas über deine Persönlichkeit sagen. Eine tatsächliche Möglichkeit wäre eine Psychotherapie oder eine Beratung. Deine Frage zur Psychotherapie ist komplex. Es gibt Menschen, die tatsächlich merken, dass sie ihren Körper so akzeptieren können, wie er ist. Das heißt nicht, dass sie nicht trans sind. Viele trans Menschen wollen gar keine medizinischen Maßnahmen. Sie stören sich gar nicht an ihrem Körper, sondern sehen sich eben einfach als Mann mit Vagina oder Frau mit Penis oder als genderqueer. Unsere Genitalien bestimmen nicht, welche Geschlechtsidentität wir haben. Für manche reicht ihr inneres Wissen, wer sie sind. Es reicht ihnen zum Beispiel aus, ihren Namen und ihr Pronomen zu ändern oder sich anders zu kleiden. Manche merken während einer Therapie auch, dass sie tatsächlich nicht trans sind. Andere merken, dass sie die medizinische Angleichung brauchen, um sich wohl zu fühlen. Die Forschung zeigt, dass diese medizinischen Maßnahmen dann sehr zur psychischen Gesundheit der Menschen beitragen. Das ist etwas anderes als körperdysmorphe Störungen, denn bei der Geschlechtsidentität geht es um viel mehr als nur einzelne Körperteile und Körpermerkmale. Gleichzeitig sind aber medizinische Maßnahmen oft notwendig, weil unsere Gesellschaft das Geschlecht einer Person eben immer noch sehr stark am Körper festmacht. Mit Sexualität hat das Ganze im Grunde gar nichts zu tun. Und auch die Idee, dass wir als Gesellschaft sexuelle Freiheiten gewähren wollen, ist eigentlich sehr neu.

Ich denke, eine psychologische Begleitung ist sehr sinnvoll für dich, wenn du dir klarer über deine Identität und deine Wünsche werden willst. Gemeinsam mit der beratenden Person kannst du auch überlegen, wie du vielleicht mal ausprobieren könntest, wie du dich in verschiedenen Geschlechterrollen fühlst. Denn medizinische Maßnahmen sind definitiv nicht der erste, sondern eher der letzte Schritt auf dieser Reise. Achte darauf, dass du eine psychologische Fachperson findest, die trans Menschen akzeptiert und unterstützt, und die Erfahrung in dem Feld hat. Denn leider gibt es immer noch zu viele uninformierte Fachpersonen. Ich empfehle dir sehr, dich zunächst mal an eine Trans-Beratungsstelle zu wenden. In unserer Linkliste findest du viele Adressen hierzu. Du kannst auch eine Internetsuche speziell für deinen Wohnort machen. Ich denke, eine persönliche Beratung bei einer auf dieses Thema spezialisierten Stelle wäre ein sinnvoller nächster Schritt für dich. Dort können sie dir deine Fragen auch noch detaillierter beantworten. Lies auf jeden Fall auch mal unseren Text Was heisst trans und wer sind trans Menschen?

Schau dir mehr Antworten und Infotexte an zum Thema