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Frage Nr. 35951 von 21.11.2022

Liebes Lilli-Team,

ich versuche eine lange Beziehung und ihr Ende seit zwei Jahren zu verarbeiten. Ich bin sehr streng mit mir, weil diese Beziehung gerade in den letzten Jahren in den Grundfesten bröckelte und ich nicht so leiden möchte bzw. mich diese Gedanken nerven, dass ich dafür viel Verantwortung trage.
Dazu muss man vielleicht wissen, dass die schlechte Beziehung abrupt von meinem Partner beendet wurde und ich immer geblieben bin, weil ich dachte, dass er sich irgendwann auseinandersetzt mit den Themen, die die Grundfesten erschütterten.
Oberflächlich gab es immer wieder leichte und schöne Momente - diese Momente haben mich nicht verstehen lassen, wie das zusammen gehen kann: ein bröckelndes Fundament auf der einen Seite und doch immer wieder diese Zuneigung auf der anderen Seite.

Ich habe Eure Seite gelesen zum Thema Liebeskummer gelesen:
"Wieso trauere ich der Beziehung hinterher, obwohl sie schrecklich war?

Manche Menschen haben einen blinden Fleck. Der hält sie davon ab, zu erkennen, wie grausam andere Menschen mit ihnen umgehen. Sie werden manipuliert und ausgenützt. Dieses Verhalten würde eigentlich dazu führen, dass sie sich schleunigst von diesem Menschen entfernen. Stattdessen wirkt das grausame Verhalten wie ein Superkleber. Der Liebeskummer ist unglaublich stark."

Steht da.
Welchen blinden Fleck meint ihr? Welche Fähigkeit fehlt mir, zu erkennen, dass jemand schlecht mit mir umgeht?
Ist es am Ende leicht und heißt einfach "Nein" sagen?

Es ist tatsächlich ein bisschen, so wie ihr es schreibt. Ich bin sehr erschöpft und kann den Tatsachen bzw. der Tatsache, dass mein Partner ein Bild von sich kreiert hat, das irgendwie nicht zu stimmen scheint, einfach nicht ins Auge sehen - es ist furchtbar: Ich sehe da am Ende nur Gleichgültigkeit mir gegenüber. Oberflächlich habe ich einen Blumenstrauß einen Tag vor seinem Weggang geschenkt bekommen. Es sah so aus, dass alles in Ordnung ist/werden wird.
Ich schäme mich so, dass ich nicht auf mein Gefühl vertraut habe und mache mir große Vorwürfe.
Wo ist mein blinder Fleck? Welche Hürde muss ich nehmen, damit ich wieder bei mir sein kann und nicht bei ihm und seinen Problemen?

Unsere Antwort

Ich habe deine Frage als Anlass genommen, den Text zu überarbeiten, auf den du dich beziehst. Vielleicht wird er etwas klarer für dich.

Wobei – so wie du schreibst, hast du ihn gut verstanden. "Blinder Fleck" bedeutet tatsächlich, blind zu sein für etwas, oder etwas nicht klar sehen wollen. Du hattest dafür einen guten Grund: Du warst investiert darin, dass die Beziehung besser wird. Du hast gehofft, dass er sich mit seinen Themen auseinandersetzt. Dadurch hast du eine Zerrbrille aufgehabt, die gewisses Verhalten von ihm schöngezeichnet, anderes ausgeblendet hat. Du hast deinen Partner auf eine Weise gezeichnet, die es gerechtfertigt hat, dass du in der Beziehung geblieben bist.

Und wenn du jetzt klarer siehst, ist das, was du siehst, furchtbar. Es fühlt sich furchtbar an. Der amerikanische Psychotherapeut David Schnarch hat mal gesagt: "Das ist, wie wenn man in einen Alptraum erwacht". Wer will das schon? Um diesen Alptraum auszuhalten, braucht es Selbstpflege und Selbstregulation. Zum Beispiel so.

Du schreibst, dass du nicht verstehen kannst, dass ein bröckelndes Fundament und Zuneigung zusammen Platz haben in einer Beziehung. Schlimme und schöne Momente. Bösartiges und liebevolles Verhalten. Ich finde das ziemlich typisch für schlimme Beziehungen: Die Beziehungspartner*innen sind nicht immer gemein oder gleichgültig oder kalt oder abschätzig. Wenn sie das wären, wären sie möglicherweise sehr schnell wieder single. Denn die wenigsten von uns halten es aus, dauernd schlecht behandelt zu werden.

Was es wirklich schwierig macht, ist, dass die Beziehungspartner*innen zwischendurch liebevoll, verführerisch, zuvorkommend sind. Das kann eine Manipulationsstrategie sein, oder es kann sein, dass sie sich zwischendurch wirklich Mühe geben. Wenn wir in dieser Beziehung bleiben wollen, ist es völlig verständlich, dass wir das "halbvolle" Glas sehen wollen, und dass wir uns an dem festhalten, was schön ist, und das weichzeichnen oder ausblenden, was schlimm ist.

Es ist so verständlich wie gefährlich: "Einmal in der Woche quält er*sie mich. Aber den Rest der Woche ist er*sie nett mit mir". Diese Haltung, dieses Entschuldigen von schlimmem Verhalten mit nettem Verhalten, höre ich viel von Menschen. Warum diese Haltung? Vielleicht scheint es einfacher, in einer vertrauten Beziehung zu bleiben, als sich ins Unvertraute, Gefährliche zu trennen. Sicher hängt es auch damit zusammen, dass viele Menschen von Kind auf gelernt haben, dass ihre Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen unschön umgegangen sind mit ihnen oder miteinander. Ich weiss nicht, wie das bei dir ist. Wir haben dazu ein Kapitel geschrieben, das dich vielleicht interessiert.

Du wirst aus dieser Erfahrung lernen. Mark Twain soll gesagt haben: "Good judgement is the result of experience and experience the result of bad judgement." Zu deutsch: "Gutes Urteilsvermögen ist das Ergebnis von Erfahrung und Erfahrung das Ergebnis von schlechtem Urteilsvermögen." In Zukunft wirst du wahrscheinlich mehr auf dein Gefühl trauen. Was ich mir für dich wünsche, ist, dass du die Haltung gegenüber einem zukünftigen Partner entwickelst: "Egal wie oft er nett mit mir ist, wenn er mich unschön behandelt, lasse ich das nicht durchgehen. Ich mache das nicht mit". Darin liegt deine Verantwortung in einer zukünftigen Beziehung: dass du Verantwortung übernimmst für dein Verhalten und dein Wohlergehen. Hierzu empfehle ich dir diesen Text.

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