Ich habe eine (lange) Frage zur sexuellen Orientierung. Ich hab eure Texte gelesen und ihr schreibt, dass es häufig Erfahrungen braucht, um es für sich herauszufinden. Ihr schreibt auch, viel von „auf jemanden stehen“.
Hier bin ich unsicher: aktuell frage ich mich, ob ich lesbisch/ queer sein könnte. Wobei ich mein gender auch hinterfrage: insgeheim gefällt mir als afab Person, wenn ich mit Name/ genderneutral angesprochen werde, ich fühle mich eher so im Bereich Demigril/ nicht-binär, aber bin damit (noch) nicht offen.
Ich war nie verliebt: keine Schmetterlinge, kein „crush“. Aber ich habe auch nie das Gefühl, jemanden küssen zu wollen oder Sex mit dieser Person zu haben.
Zuletzt kam es aber vor, dass ich mir Zärtlichkeit/ Intimität und vielleicht Sex mit FLINTA wünsche. Nicht mit einer spezifischen Person, die ich kennengelernt hätte.
Ich frage mich, ob dieses „noch nie mit jemandem Sex gewollt haben“ abnormal ist bzw bedeutet dass ich asexuell bin.
Andererseits gibt es traumatische Erfahrungen (sexualisierte Gewalt), welche das alles wohl beeinflussen (?). Ich frage mich, ob sich das irgendwann ändern wird, da ich in Therapie bin und auch Körperarbeit mache. Letztere ermöglicht mir mittlerweile, überhaupt in irgendeinem Kontext Nähe zuzulassen und hat mich mehr an positive Empfindungen im Körper herangeführt (und auch an schmerzhafte, wenn es triggert).
Aber wie kann ich auf eine sichere Art Erfahrungen diesbezüglich sammeln und herausfinden, was Sexualität leben für mich bedeuten könnte? Ich habe schonmal geschrieben gehabt und soweit ich mich erinnere hattet ihr zum allein Ausprobieren geraten. Aber das führt am Ende meist zu Wiedererleben von Gewalt bzw mir auf diese Art „wehtun“, freezen und zurückversetzt werden. Ich fühle mich auch ekelhaft durch das alles, abstossend. Was dann Nähe zulassen auch wieder erschwert.
Ich fühle mich langsam „alt“ (28J).
Unsere Antwort
Du schreibst, wir hätten dir auf deine frühere Frage zum ‚allein Ausprobieren‘ geraten. Meine Antwort geht in eine ähnliche Richtung. Dein Ziel könnte Eigenständigkeit heissen.
In deinem Text beschreibst du eindrücklich deine Suche nach einer Identität zwischen afab (assigned female at birth) und FLINTA (Akronym für Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, Nichtbinäre, Trans- und Agender-Personen). Du selbst siehst dich am ehesten als Demigirl. Also als eine Person, die sich teilweise, aber nicht vollständig als Frau fühlt, bzw. sich nur halb mit als feminin gelesenen Eigenschaften identifiziert. Schon bei der Identitätssuche würden wir dir von einer eindeutigen lebenslangen Zuordnung abraten. Das Interessante ist doch, dass wir Diversität erkannt haben. Um die Diversität zu beschreiben, sind viele Identitätsbezeichnungen entstanden. Das befreit uns von der engen Frau-Mann-Ordnung. Es sollte aber nicht wieder in einer engen Auslegung enden. Wir schlagen dir vor, dich so wie du bist anzunehmen. Und dich auch so wie du dich in dir fühlst zu (be-)nennen. Möglicherweise ändern sich deine Wahrnehmung und dein Gefühl ab und zu. Dann könntest du andere Bezeichnungen wählen. Wichtig ist, dass du weisst: Du hast die Wahl! Und was du wählst, stimmt für dich!
Zu deinem Wunsch nach sexuellen Beziehungen hast du ebenfalls einige Fragen. Versuch mal, dich nicht aussen zu orientieren. ,Bin ich normal oder nicht?’ ist eine verständliche Frage. Allerdings macht schon die Frage Angst, weil die mögliche Antwort ‚nicht normal’ sein könnte. Und dann steht man da, weiss nichts mehr über sich selbst, muss aber mit scheusslichen Gefühlen der Abwertung und Aussonderung klarkommen. Wir raten zu mehr Selbstverständnis im wörtlichen Sinn. Wie verstehst du deine Gefühle, Gedanken, Wünsche und Ideen? Du hast die Erfahrung gemacht, dass die Allein-Erotik dich in Spannungen bringt, die du nur mit Schmerz und Einfrieren erträgst und die Ekel auslöst. Du hast verstanden, dass sexuelle Gewalt Spuren der Erinnerung im Körper hinterlässt. Du bist in einer Therapie, in der du lernst, diese Spuren zu verstehen. Dein Körper lernt, dass er in Sicherheit ist. Dein «ich fühle mich langsam alt» ist sehr verständlich. Die Wiedergewinnung von Eigenständigkeit ist harte Arbeit, wenn der Körper Besatzungserfahrungen gemacht hat. Lass dich nicht entmutigen.
In der Körperarbeit hast du beobachtet, dass dir positive Empfindungen im Körper möglich sind und die Trigger schmerzhaft abgearbeitet werden müssen. Inzwischen gibt es Kontexte in denen dir Nähe möglich ist. Du nimmst dich also sehr gut wahr. Du hast sogar Wünsche nach Zärtlichkeit und Intimität gespürt. Das entspricht aktuell wohl deinen Bedürfnissen. Deine Wünsche richten sich auf FLINTA-Personen und nicht an 100%Frauen oder 100%Männer. Auch das ist stimmig. Stereotype Weiblichkeit entspricht nicht deiner Selbstwahrnehmung.
Wir raten dir, mit deiner Therapie weiter zu machen. Dort ist es dir gelungen, positive Gefühle in deinem Körper zu entwickeln. Diese werden dich anderen Körpern näher bringen. Wünsche nach Nähe und Intimität hast du bereits. Wenn du mutig deine sexuelle Erregung studierst, wirst du auch sexuelles Begehren wahrnehmen. Das Wichtigste bist du, dein Mut und deine Eigenständigkeit.
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