Stell deine Frage...

Wir streiten rund um die Kindererziehung

Erziehung ist in gewisser Hinsicht Glaubenssache. Eltern sind unterschiedlich. Kinder haben eigentlich keine Probleme, mit Unterschiedlichkeiten umzugehen. Im Gegenteil: Es hilft bei der Sozialisation, wenn sie Unterschiedliches erleben. Was ein Kind hingegen stresst: Wenn Unterschiede nicht sein «dürfen», wenn unterschiedliche Meinungen keinen Platz haben.

Ein Alltagsbeispiel…

Stell dir folgende Szene vor: Du findest, das Kind sollte sich an Tischregeln halten. Dein*e Partner*in findet, das unterbinde das Kind in seiner Entfaltung und sei nicht kindgerecht. Das Kind lerne Tischregeln im Verlauf seiner Entwicklung schon automatisch. Du findest, sie*er verwöhne das Kind, und das sei schädlich. Du regst dich drüber auf, dass das Kind nicht anständig isst, und heischst es an. Dein*e Partner*in wirft dir an den Kopf, dass du übergriffig bist und geht mit dem Kind in die Küche essen.

Was ist hier das Problem?

Ihr beide, du und dein*e Partner*in, habt euch in eurer elterlichen Kompetenz missachtet, nicht unterstützt, in den Rücken gefallen gefühlt. Ihr beide seht einander als Feind. Was macht das mit dem Kind? Es kriegt massive Schuldgefühle, weil es der Auslöser ist für den Konflikt. Es leidet unter diesem Zwiespalt. Es ist daher wichtig, dass ihr zu einem Konsens finden – also zu einer Übereinstimmung eurer Meinungen.

Aber ich habe recht!

Das Schwierige ist ja: Ihr findet beide: «So wie ich es mache, ist es richtig!». Wenn’s drum geht, das hier jemand recht hat, bist du in der Sackgasse. Ihr seid zwei Gegner*innen, die einander überzeugen oder besiegen wollen. Dabei bräuchte es jetzt eine Bereitschaft, offen über Erziehungsunterschiede zu reden.

Aber wenn ich eingreifen MUSS?

Wenn du den Eindruck hast, das Kind oder seine Entwicklung wird geschädigt oder gefährdet durch das Verhalten oder den Erziehungsstil des anderen, reagierst du wahrscheinlich spontan und unüberlegt. So kommt es zu einer Eskalation – auf Deutsch: Streit am Tisch. Es ist klar, dass das dem Kind schadet. Eine bessere Lösung ist: Du hältst dich erst mal zurück und suchst anschliessend das Gespräch mit dem Partner*der Partnerin. Wenn er*sie wieder ruhig ist.

Aber er*sie hat wirklich einen schlechten Erziehungsstil!

In der Kindererziehung ist vieles Ansichtssache. Die einen finden einen Erziehungsstil gut, die anderen schlecht. Was heute gilt, ist etwas anderes, als vor 30 Jahren galt und was in 30 Jahren gelten wird. Je nach Kultur sind da auch wieder völlige Unterschiede. Du rollst die Augen, wenn du über bestimmte Erziehungsstile liest. Eine andere Person aber nicht. Die Menschheitsgeschichte zeigt uns: Kinder kommen offenbar mit ganz unterschiedlichen Erziehungsstilen klar. Auch wenn Eltern gern denken, dass der Erziehungsstil des anderen das Kind dauerhaft schädigt, ist das wahrschienlich nicht so. Mehr noch: Wahrscheinlich habt ihr beide irgendwie Recht.

Wie du etwas siehst und bewertest, hat möglicherweise viel mit dir und deiner persönlichen Geschichte zu tun. Ob streng oder locker, ob die eine Regel oder die andere Regel – entscheidend für die gute Erziehung ist eine grundsätzlich wohlwollende Haltung dem Kind gegenüber. Wenn du das berücksichtigst, fällt es dir wahrscheinlich leichter, offen gegenüber deinem Partner*deiner Partnerin zu sein.

Wie finden wir einen Konsens?

Redet in einer ruhigen Situation darüber, was bei jedem abgelaufen ist. In einer ruhigen Situation seid ihr eher ein Team, keine Gegner. Wir empfehlen, dass du den ersten Schritt machst – und nicht wartest, bis dein*e Partner*in ihn macht. Du kommst einfach weiter, wenn du selbst Verantwortung übernimmst. Sonst wartest du möglicherweise bis du grau bist.

Bei dem Gespräch ist es ganz wichtig, dass du wirklich interessiert bist daran, deinen Partner*deine Partnerin zu verstehen. Was hat er*sie für Haltung? Und warum? Er*sie hat ja nicht grundlos diese Haltung. Verstehen heisst nicht, dass du sein*ihr Verhalten entschuldigst. Aber wenn er*sie spürt, dass du wirklich Interesse hast und probierst, sie*ihn zu verstehen, ist er*sie eher gewillt, einen Schritt auf dich zuzumachen. Und ihr könnt besser an einer Lösung arbeiten.

Wie sieht eine mögliche Lösung aus?

Im obigen Beispiel: Falls das Essen am Esstisch stattfindet, hält das Kind sich an die Tischregeln. Wenn es hingegen ein TV-Dinner gibt oder das Essen aus sonstigen Gründen nicht am Tisch stattfindet, dann gelten die Regeln nicht. Oder: Wenn nur du da bist, gelten deine Regeln, und wenn nur er*sie da ist, gelten seine*ihre. Wenn alle gemeinsam essen, gilt das, was ihr miteinander abgemacht habt.

Es gibt zahllose solche Lösungen. Wenn zwei Menschen wirklich an einer Lösung interessiert sind, finden sie sie auch. Die Lösung werden sie nicht finden, wenn ihr Ziel ist, recht zu haben. Frag dich, was dein Ziel ist. Wahrscheinlich wirst du sagen: "das Wohlergehen des Kindes". Genau. Wie gesagt: Erziehungsstile schädigen das Kind nicht grundsätzlich. Dauernder Krach am Esstisch schon.

Ist ein Kind durch unterschiedliche Regeln nicht verwirrt?

Nein. Wir glauben ganz im Gegenteil, dass es für die kindliche Entwicklung wichtig ist, dass das Kind unterschiedliche Meinungen und Regeln kennen lernt. Denn im Leben gelten je nach Situation ganz unterschiedliche Dinge. Das Kind lernt, sich flexibel anzupassen und mit unterschiedliche Stilen umzugehen. Im obigen Beispiel: Es lernt sowohl, sich an Tischregeln zu halten, als auch kreativ Essverhalten zu explorieren. (Ihr lernt das so auch wink). Ausserdem lernt es, dass unterschiedliche Haltungen Platz haben und sein dürfen. Das fördert seine Toleranz. Es lernt, dem Anderen, Fremden respektvoll zu begegnen.

Wo fängt der Missbrauch an?

Es gibt Situationen und Haltungen, die nicht mehr gut sind. Wir von Lilli finden, dass körperliche Gewaltanwendung am Kind dich rechtfertigt, einzugreifen. Vor allem, wenn es nicht einfach impulsiv passiert, sondern bei bewusster körperlicher Gewalt als Strafmassnahme. Auch wenn diese moralisch oder religiös gerechtfertigt ist. Das verstösst aus unserer sicht gegen das kindliche Menschenrecht.